"Völkisches Denken - Quelle des Nationalsozialismus?"

So lautete das Thema einer Podiumsdiskussion am 30. Januar 2003 in Naumburg, zu der die Forschungs- und Dokumentationsstelle beim Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Geschäftsstelle Halle) in Kooperation mit dem Bildungsverein ELBE-SAALE sowie dem Thüringer Forum Bildung und Wissenschaft eingeladen hatte. Worum ging es?
Anlass war ein Ereignis vor 70 Jahren, mit dem nicht nur für das deutsche Volk schweres Unheil begann. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Masse der deutschen Bevölkerung ahnte damals nicht, zu welchen Verbrechen der Nationalsozialismus fähig sein würde, obwohl bereits Hitlers programmatische Schrift "Mein Kampf" (1925 / 26 ) den rassisch gereinigten, antisemitischen, antiliberalen, antimarxistischen Führerstaat mit Anspruch auf die Eroberung "neuen Lebensraums" im Osten forderte. Diejenigen, die es ahnten, wurden mundtot gemacht und zügellosem Terror ausgesetzt.
Völkisches Gedankengut müsse in die Analyse einbezogen werden, wenn es um die geistigen Quellen des Faschismus geht - so Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Vorsitzender des Thüringer Forums Bildung und Wissenschaft in seinem einleitenden Beitrag. Völkisch, das bedeutete nach zeitgenössischer Lesart zunächst: national unter Hervorhebung der in Rasse und Volkstum liegenden Werte. Die nationalsozialistische Ideologie knüpfte hier an und vertiefte dies weiter, indem sie das Völkische über das Nationale hinaus für ihre expansiven Ziele, u. a. das angestrebte Großdeutschland, nutzte. Völkisches Denken konnte so in faschistisches umschlagen. Es schloß Rassismus, Antisemitismus, die Bereitschaft zum Völkermord ebenso ein wie die Vorstellung von der Züchtung des arischen Herrenmenschen. Daran sollte stets erinnert werden.
Justus H. Ulbricht, Mitarbeiter im Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik, wandte sich in seinem Statement der Rolle völkischen Gedankengutes in deutscher Kunst und Literatur vor 1933 zu. Er warb dafür, das Verständnis für Motive völkischer Diskurse, deren Sprengkraft häufig unterschätzt wird, zu wecken. Sein Rückblick bezog sich z. B. auf das Verhältnis von Völkischem und Gotik, die Suche nach einem auf deutschem Volkstum basierenden gemeinsamen Stil in Kunst und Literatur, den Einfluss naturwissenschaftlicher Debatten auf die geisteswissenschaftliche und künstlerische Entwicklung, die zunehmend ganzheitlich und sauber, ohne Gefahr für den deutschen Volkskörper verlaufen sollte. Der Kampf gegen die so genannte "entartete" Kunst begann bereits vor 1933. Insofern habe die NSDAP nur auf vorhandene Motivationen und Erwartungen reagiert.
Zum Umgang mit Problemen von "Volk und Nation" und deren Anziehungskraft heute sprach Dr. Ute Hoffmann, Leiterin der Gedenkstätte für die Opfer der NS-"Euthanasie" in Bernburg. Sie ging vom schweren Stand des Faches Geschichte an den Schulen der Bundesrepublik aus, vom häufig fehlenden Interesse der Kinder und Jugendlichen an historischen Themen - Ein Umstand, dessen Ursachen nicht selten in der Art und Weise des Unterrichts zu finden sind. Zum Problem völkischen Denkens vor 1933 würden nur noch stark eingegrenzt Kenntnisse vermittelt und aktuelle Bezüge hergestellt. Oft fehle die Sachkenntnis oder werde zu viel in die Geschichte hineingedeutet. Insbesondere die Zeit des NS-Regimes müsse für die Auseinandersetzung mit radikalem, extremistischem Gedankengut stärker genutzt werden. In der politischen Bildung stelle sich zudem die Frage, ob genügend Werte und Normen vorhanden sind, um auch besonders Anfällige zu erreichen und zur Vernunft zu bringen.
Zahlreiche Diskussionsbeiträge zeugten von der Aufgeschlossenheit des Teilnehmerkreises für die Thematik. Nicht parteipolitisches Kalkül stand im Vordergrund, sondern der Gedankenaustausch über Parteigrenzen hinweg. Wieviel Volks- und Nationalgefühl brauchen wir heute? Gibt es noch Raum für den Nationalstolz der Deutschen oder verbieten es 12 Jahre Hitler-Regime mit seinen Folgen? Wie zeigen sich Nationalismus und Rassismus heute? Wo liegt die Grenze für die Duldung von Rechtsradikalismus im parlamentarischen System?
Mehrfach gefordert wurde eine differenziertere Sicht auf historische Prozesse in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Dies bezog sich u. a. auf die schwierige Gemengelage hinsichtlich der Geschichte des Völkischen als Mischung mehrer Tendenzen, von denen es vor dem Machtantritt des Nationalsozialismus nicht nur negative gab. Mit dem Blick auf die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Normen in Europa sei auch - so die Meinung - eine neue Qualität im Umgang mit den Begriffen Identität und Nationales notwendig.
Ein wichtiges Fazit der Veranstaltung war: Die weitere Aufarbeitung der Geschichte, die kritische Bewertung vorliegender Ergebnisse, der Umgang mit Erinnerungsorten, Denkmälern und Gedenkstätten darf nicht einseitig erfolgen. Damit leistete sie einen Beitrag zur Förderung des Dialogs zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in dem so geschichtsträchtigen mitteldeutschen Raum.

Dr. Christel Gibas

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