Das Solidarprinzip - ein Auslaufmodell ?

Aspekte des Vergleichs europäischer Krankenversicherungssysteme Abgesehen vom Referenten Dr. Axel Holz (Schwerin) war unter denen, die die Veranstaltung zu diesem Thema besuchten, leider kein weiterer Vertreter des männlichen Geschlechts. Vom Bildungsverein ELBE-SAALE e. V. und dem Referat für Gleichstellung der Stadt Halle/S. organisiert, sollte sie ein Beitrag zur diesjährigen Europawoche sein, Frauen in besonderem Maße ansprechen, aber auch Interesse bei männlichen Mitbürgern wecken.
Ausgehend vom WHO-definierten Verständnis von Gesundheit und vor dem Hintergrund der zu beobachtenden bzw. anstehenden Veränderungen in den Gesundheits- und Sozialsystemen vieler Staaten Europas unterstützte Dr. Holz zu Beginn noch einmal die Forderung nach einer geschlechtsspezifischen und frauengerechteren Betreuung und Versorgung. Sie müsse zum festen Bestandteil der Debatte über künftige Strategien und Strukturen werden.
Wie soll die Zukunft der Krankenversicherung aussehen? Droht das Solidarprinzip tatsächlich, zu einem Auslaufmodell zu werden? Diesen Fragen wandte sich der Referent dann zu, wobei er vor allem die Wirkung von Privatisierungselementen im Gesundheitswesen und im Leistungsangebot europäischer Krankenversicherungen beschrieb. An mehreren Beispielen zeigte er, mit welchen Problemen die Sicherung der sozialen Komponente im Rahmen von Marktmechanismen verbunden ist. In bezug auf die Ausübung von Gesundheitsberufen gehöre z. B. ärztliche Tätigkeit in einzelnen europäischen Ländern zum freien Unternehmertum - jedoch mit Einschränkungen. Im Interesse einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung werde die Niederlassung der Ärzteschaft gesetzlich gesteuert, was eine bewußte Einschränkung der Berufsfreiheit bedeute. In der BRD habe die praktizierte Niederlassungsfreiheit einerseits zur Überversorgung, ja sogar zur Sperrung bestimmter Gebiete für weitere Niederlassungen geführt, andererseits zur Vergreisung von Arztpraxen in unattraktiver ländlicher Lage. Länder, die ein anderes Konzept verfolgen, seien vor allem die skandinavischen Länder, wo Ärtztinnen und Ärzte größtenteils als Angestellte im öffentlichen Dienst arbeiten. Ein modernes Gesundheitssystem müsse nicht zwangsläufig mit Liberalisierung verbunden sein, sondern könne auch ohne forcierte Privatisierung im Bereich der Gesundheitsanbieter eine qualitätsgerechte Versorgung sichern.
Ein wichtiger Problemkreis - so Holz - sei die Ausgliederung von Leistungen aus dem Leistungskatalog und die damit verbundene Einführung privater Elemente in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Um die Einführung von Wahltarifen, wie sie z.B. in der Schweiz und Dänemark existieren, gehe es auch in der Diskussion um die Reform der GKV in der BRD. Wahlleistungen, die in private Verantwortung übergehen, dürften nach seiner Auffassung nur dann akzeptiert werden, wenn sie nicht zu Abstrichen am umfassenden und ausreichenden Leistungsangebot für die Gesamtbevölkerung führen. Familienpolitische Aufgaben müßten zudem aus der Sozialversicherung herausgelöst und im Interesse einer wirklich solidarischen Finanzierung stärker staatlicher Verantwortung unterstellt werden. "Darüber hinaus" - so Holz wörtlich - "sollte die Ausgliederung von Elementen des Leistungskataloges aus Gründen der Bevölkerungsvergreisung und des technischen Fortschritts solange nicht zur Debatte stehen, wie tatsächliche Solidarität in der Sozialversicherung nicht hergestellt ist und die leistungsfähigsten Teile der Bevölkerung in Fragen Sozialversicherung ihr privates Süppchen zu durchaus lukrativen Konditionen kochen können."
Eine klare Absage erteilte der Referent der Nutzung bzw. Einführung von Elementen der Privatversicherung, wie Zuzahlung, Selbstbehalt und Beitragrückerstattung, in die Sozialversicherung. Insbesondere Modellvorhaben zur Beitragrückerstattung in der BRD würden bisher nicht überzeugen, hätten sozialpolitisch keine erkennbare Steuerungswirkung und wären in erster Linie von Vorteil für Besserverdienende.
Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen gebe es in vielen Ländern Europas, sie seien aber seit Jahren umstritten. Nach Auffassung von Holz sollten diese Instrumente nur dort eingesetzt werden, wo mit ihrer Hilfe das Gesundheitsverhalten der Versicherten positiv beeinflußt werden kann. So konnte z.B. in Schweden die überdurchschnittlich hohe Arbeitsunfähigkeitsquote durch die Einführung von Karenztagen auf ein normales Niveau gesenkt werden. Zuzahlungen pro Tag im Krankenhaus ließen einen solchen Steuerungseffekt jedoch nicht erkennen.
Der Teilnehmerkreis bekundete ein reges Interesse an den Darlegungen. Viele Probleme wurden aus persönlicher Erfahrung heraus emotionsgeladen zur Disskussion gestellt. Fragen gab es u.a. zum Umgang mit Hochrisikogruppen und chronisch kranken Menschen in der Krankenversicherung, zur Verschreibungspraxis von Medikamenten, zur Perspektive der Positivliste bei Medikamenten sowie zur geschlechtsspezifischen Erfassung und Auswertung von Daten durch die Krankenkassen. Einig war man sich darin: Das Solidarprinzip darf kein Auslaufmodell werden, weder in der BRD noch europaweit.


Dr. Christel Gibas Bildungsverein ELBE-SAALE e.V.

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