Pflegealltag in der Krise.
Pflege zwischen Profession, Liebe und Überdruß

Zur Verständigung über diese Problematik hatten der Bildungsverein ELBE-SAALE und weitere Initiatoren vom 14. bis 16. April 2000 zu einer Tagung nach Bernburg eingeladen. Fortgesetzt wurde damit eine inzwischen zur Tradition gewordene Veranstaltungsreihe zu medizin-ethischen und sozialen Fragen in der Gedenkstätte für die Opfer der NS -"Euthanasie".
Vorgesehen war ein vielschichtiges Programm, wobei WissenschtlerInnen, FunktionsträgerInnen, Betreuungs - und Pflegepersonal, Auszubildende etc. ebenso zu Wort kommen sollten, wie interessierte Bürgerinnen und Bürger. Ausgehend von einem historischen Exkurs zum Umgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen standen Aspekte der Altenpflege im Spannungsfeld zwischen Ethik und Kommerz sowie ausgewählte Probleme des Pflegealltags unter besonderer Berücksichtigung von Gewalterfahrungen im Mittelpunkt.
Roswitha Stolfa, Vizepräsidentin des Landtages von Sachsen-Anhalt, hob in ihrem einführenden Beitrag zunächst ausdrücklich die Wahl des Tagungsortes hervor. Es sei sehr wichtig, mahnend daran zu erinnern, daß es in Deutschland eine Zeit gab, in der man Pflegebedürftigen den Stempel der Minderwertigkeit aufdrückte, das Leben tausender Kranker und Behinderter als lebensunwert deklarierte und an Orten wie dem in Bernburg auslöschte. Die Verbrechen des Nazi-Regimes müßten vor allem jungen Menschen immer wieder bewußt gemacht werden, denn sie hätten künftig Sorge dafür zu tragen, daß sich so etwas nie wiederholt. Die nach 20 Jahren kontroverser Diskussion 1995 in Deutschland eingeführte Pflegeversicherung wertete sie als Erfolg. In der Praxis zeige sich nach ihrer Auffassung inzwischen deutlich Bewahrens- und Verteidigungswertes, zugleich aber auch Problematisches und Kritikwürdiges. Handlungsbedarf bestehe vor allem hinsichtlich der Begutachtung von Fällen und deren Einordnung in Pflegestufen, der Leistungsbemessung von Pflegediensten sowie der bisher vorhandenen Inakzeptanz des sogenannten Assistenzmodells. Die Forderung nach Professionalität in der Pflege sei berechtigt. Sie sollte auch weiterhin durch Fachkraftquoten und vertragliche Anerkennung von Pflegediensten gesichert werden. Von der Liebe, die den Pflegeprozeß begleiten und sich in der sozialen Zuwendung gegenüber den Pflegebedürftigen zeigen müßte, blieb in der Realität oft nur das "satt - sauber - trocken" übrig. Der Zwang zur Wirtschaftlichkeit der Pflegeeinrichtung führe häufig dazu, daß das Wohl des Menschen als Richtwert des Handelns in den Hintergrund gerät. Fachliche und physische Überforderung des Pflegepersonals hätten Unzufriedenheit und Überdruß zur Folge. Es stelle sich deshalb die Frage: Ist das gewollt? Wer kann/will es verhindern? Roswitha Stolfa nannte weitere Probleme bei der Umsetzung der Pflegeversicherung, von denen im Bundesland Sachsen-Anhalt viele - so ihre Meinung - nach einer Evaluierung des Landesausführungsgesetzes zu lösen wären.
Frau Prof. Dr. Nühlen (FHS Merseburg) vermittelte zum Pflegeverständnis einen Einblick in die geschichtliche Entwicklung. Nach ihren Erkenntnissen müsse für die Geschichte allgemein konstatiert werden: Pflegende Personen waren vornehmlich Frauen. Die Pflege alter Menschen sei in der Vergangenheit nur marginal in Erscheinung getreten. Dennoch gebe es Zeugnisse, die etwas darüber mitteilen. Die Achtung vor dem Alter, dem vor allem Weisheit zugeschrieben wurde, sei überliefert. Während alte Menschen nach dem griechischen Philosophen Platon würdige Pflege verdienten, finde man bei Aristoteles eine eher pessimistische Sicht auf das Alter, das fast ausschließlich Verlust und Mangel an körperlichen und geistigen Fähigkeiten bringe. Die römische Zeit - so Nühlen - war vor allem durch die Idealisierung der jugendlichen Kraft geprägt. Für die Expansionspolitik brauchte man kraftvolle und mutige Männer, keine alten, die das Schwert nicht mehr halten konnten und entscheidungsschwach waren. Ein Schlagwort aus jener Zeit lautete deshalb: "Sechzigjährige abtreten!" Im Mittelalter sei das gesellschaftliche Altersbild sehr stark von der christlichen Lehre beeinflußt worden. Mit strengen Morallehren sollte der sichtbaren Verrohung der Sitten begegnet werden. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen körperlichem und geistigem Alter wurden körperliche Altersgebrechen mit Sündhaftigkeit in Beziehung gesetzt, das geistige Alter mit Besonnenheit, Bescheidenheit und Einsicht. Für die soziale Absicherung von Alten und Kranken sorgten in Städten einzelne Zünfte und Stände, im ländlichen Raum die Großfamilie. Über Jahrhunderte galt: Je größer die Armut, desto kürzer die Lebenszeit. Während in der Neuzeit erste Einrichtungen zur Pflege von Kranken und Alten durch kirchliche Initiativen in Form von Klöstern und Armenhäusern geschaffen wurden, seien Anfänge einer staatlichen Alterssicherung mit Beginn der Industrialisierung zu finden. Altern erwies sich als soziales Problem, insbesondere durch die steigende Zahl von Lohnarbeitern. Die Durchsetzung eines gesellschaftlichen Altersversorgungssystems stand jetzt auf der Tagesordnung.
Von der Leiterin der Gedenkstätte in Bernburg, Frau Dr. Hoffmann, wurde ein erschütterndes Bild über die Zeit der Naziherrschaft, insbesondere nach Einsetzen der Vernichtung "lebensunwerten Lebens" aufgrund des "Euthanasiegesetzes" gezeichnet. 40000 Menschen fielen ihm bis 1943 allein in Bernburg zum Opfer, darunter viele älter als 60 Jahre. Anhand von Beispielen schilderte sie, wie Angehörige des Schwesternpersonals mit dieser Situation umgingen und nach 1945 auf die Schuldfrage reagierten.
Herr Prof. Turre, Direktor des Diakonisches Werkes der Kirchenprovinz Sachsen, äußerte sich zu verschiedenen Problemkreisen der Pflege im Hinblick auf die Verbindung von Profession und Konfession. Anlaß dafür sei die Frage nach den Möglichkeiten der Verbesserung der Pflegequalität in den nächsten Jahren. Die Debatte über Standards - inzwischen in Europa angestoßen - müsse genutzt werden für die bewußte Gestaltung der Qualitätsentwicklung. Klarheit gelte es zu schaffen über die Dimensionen dieses Prozesses mit Blick auf die Frage: Was muß geleistet werden und was wird nicht geleistet werden können?. In der Pflegearbeit, die soziale Arbeit ist, sei der ehrliche Diskurs über Rationalisierung, aber auch Rationierung notwendig. Vor die Aktion müsse jedoch die Besinnung treten, denn man habe es nicht mit Produkten zu tun, sondern mit einer Beziehung, nicht mit Kunden, sondern mit Menschen. Verständnis von Humanität aus christlicher Sicht bedeute in diesem Zusammenhang, Dienst zu leisten, der vor Fehlern nicht gefeit ist, aber immer das Ziel verfolgen muß, die Menschenwürde zu achten. Bei der Reorganisation der inneren Zustände seien deshalb Fragen danach zu stellen, ob die derzeitige Pflegearbeit diesen Ansprüchen genügt, Hilfe so geleistet wird, daß sie Mündigkeit wahrt und Barmherzigkeit umsetzt. Letztenendes gehe es um moralische Ansprüche, nicht um ökonomische, um Profil, nicht um Profit.
Aus der Sicht gravierender Mängel in der Pflege, von denen in den letzten Jahren zunehmend berichtet wird, setzte sich Prof. Dr. Lange, Leiter der Regionalstelle des Humanistischen Verbandes Deutschlands in Halle und dem Saalkreis, mit einigen ethischen Fragestellungen auseinander. Institutionen wie Pflegekräften müsse deutlicher ins Bewußtsein gerückt werden, welche Werte im Mittelpunkt ihres Handelns zu stehen haben. Routine dürfe den Werthorizont in der Pflege nicht verdrängen. Zu fragen sei: Was ist uns der alte Mensch eigentlich wert? Ist er uns nur Objekt von Fürsorge, oder ist er uns auch wichtig wegen seiner Lebensleistung, seiner Persönlichkeit? Ist er gar nur Quelle von Gewinn, eine Ware auf dem Markt der Dienstleistungen? Eine Wertehierarchie im Pflegesektor könne nur von der Priorität der Menschenwürde ausgehen. Entscheidend sei die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, ohne dabei die Rechte und Interessen anderer zu verletzen sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Berufung auf das Wohl des alten Menschen unterliege - so Lange - einem sehr subjektiven Maßstab und rechtfertige in keinem Fall die Verletzung der Würde des Menschen bei der Durchführung von Pflegemaßnahmen. Achtung der Menschenwürde müsse als Ziel-Wert ethischen Handelns in Pflegeberufen angesehen werden, von dem bestimmte Mittel-Werte und Normen abzuleiten sind. Die Achtung der Individualität des zu Pflegenden spiele hierbei eine große Rolle, wenngleich die Akzeptanz jedes Menschen als einmaliges Individuum mit erheblichen ethischen Konflikten verbunden sein kann. Pflegekräfte würden oft mit unangenehmen menschlichen Eigenschaften, wie Undankbarkeit, Eigensinn, Mißtrauen, Neid, Feindseligkeit und Egoismus konfrontiert, benötigten gerade deshalb ein hohes Maß an moralischer Souveränität. Ein besonders brisantes ethisches Problem in der Pflege sei der Umgang mit der Wahrheit. Vor allem im Verhältnis zu Sterbenden gehe es um Wahrhaftigkeit als Voraussetzung für Vertrauen, wodurch das Recht auf Selbstbestimmung und die Möglichkeit des bewußten Abschiednehmens gewahrt blieben.
Inhaltlich bereichert wurde die Tagung durch Beiträge, die sich mit ausgewählten Problemen der Pflegepraxis und deren Umfeld beschäftigten. So ging es unter anderem um Ursachen und Formen von Gewaltanwendung in der Pflege, um den Nachweis, daß ein multifaktorielles Zusammenspiel Gewalt von Pflegekräften, aber auch Aggressionen durch Heimbewohner hervortreten läßt. Der Pflegeberuf sei - so die Diskussion dazu - ein sehr schwerer Beruf. Dennoch dürfe es für physische Gewalt kein Verständnis geben. Gestellt und beantwortet werden müßten vor allem Fragen im Zusammenhang mit Erscheinungen von struktureller Gewalt. Anlaß für einen regen Gedankenaustausch bot auch der Bericht eines Pflegers über seine Arbeit in einem Seniorenheim. Unter den Anwesenden herrschte Konsens darüber, daß das gesellschaftliche Ansehen des Pflegeberufes erhöht werden muß. Das setze jedoch eine entsprechende Qualifikation voraus. Die Fähigkeit, fürsorglich mit Menschen umzugehen, genüge nicht. Qualitätssteigerung könne nur durch gut ausgebildete Kräfte erreicht werden. Mit großem Interesse wurden Informationen zur sozialen Absicherung von Pflegenden in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie zu Neuerungen des reformierten, seit 1.1.1999 geltenden Betreuungsgesetzes der BRD aufgenommen.
Frau Dr. habil. Schubert-Lehnhardt (ELBE-SAALE e.V.) stellte Ergebnisse einer Befragung vor, die ihre Projektgruppe "Wertewandel im Gesundheitswesen" im Vorfeld der Tagung in der Stadt Halle/S. durchgeführt hatte. Im Mittelpunkt stand dabei die Sicht von BürgerInnen im höheren Lebensalter auf die künftige Entwicklung der Betreuungs- und Pflegesituation in Deutschland. Analysiert wurden subjektive Befindlichkeiten in bezug auf die Beschäftigung mit dem Thema Alter sowie Ansprüche an Wohn- und Betreuungsverhältnisse in der letzten Lebensphase, einschließlich vorhandener Befürchtungen und Ängste. Von den Anwesenden wurde in diesem Zusammenhang die Bedeutsamkeit empirischen Materials zu Erwartungen und Handlungsintensionen der Bevölkerung für gesellschaftliche Weichenstellungen in diesem sensibelen Bereich unterstrichen.
Beabsichtigt ist, auch zur vierten Bernburger Tagung einen Protokollband, der sämtliche Beiträge enthalten wird, zu veröffentlichen.


Dr. Ch. Gibas (Bildungsverein ELBE-SAALE e.V.)

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