Ostdeutschland 2020 –
Innovation und Integration in Sachsen-Anhalt

Eröffnet wurde die Tagung mit der Forderung Dr. Evelin Wittichs entschieden und radikal einen anderen Entwicklungspfad Ostdeutschlands zu bestimmen. Während Dr. Klaus Meier, Moderator in Block I der Konferenz, politische Bildung als Aufklärung und als Dialog der Auffassungen von Vertretern kritischer Wissenschaft, Kunst und Politik kennzeichnete, zog Daniela Dahn unmittelbar anschließend ein Resümee aus 15 Jahren deutscher Einheit. Beeindruckend - wie sie es verstand– die Zeit der 1990er Anschlussjahre als komplizierte Ursache – Wirkung - Beziehungen in emotional-künstlerischer, aber dennoch alltagserfahrungsnaher Sprache darzustellen. U.a. hier ihr Vergleich zur Vernichtung des Industriepotenzials in Folge der Weltkriege und der deutschen Einheit auf dem Boden Ostdeutschlands.
„Märkte schaffen ohne Waffen“, so kennzeichnete sie das Vorgehen der westdeutschen Politik und Wirtschaft in diesem Zusammenhang. Die Folge dieser Entwicklung bezeichnete sie als „Bankrott auf hohem Niveau“.
Eine interessante Argumentation leitete sie auch aus Ludwig Erhards Auffassung ab, dass Eigentum die Grundlage für materielle und geistige Unabhängigkeit sei. Mit Blick auf den Osten sprach sie von der größten Enteignungswelle in der jüngeren Geschichte, mit dem Resultat, dass das ostdeutsche Eigentum sich heute größtenteils in westdeutscher Hand befindet. Die 160 größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz in Westdeutschland, wo sie auch ihre Steuern bezahlen. 1/3 des ostdeutschen Verbrauchs wird in Westdeutschland produziert.
Daniela Dahn formulierte: Wo sich Warmes und Kaltes vereinigen, wird Warmes kälter und Kaltes wärmer – so ist die Natur! Wo sich aber Arm und Reich vereinigen, wird Armes ärmer und Reiches reicher – so ist der Mensch!
Bezug nehmend auf diese Situation, die auch ihren Niederschlag in dem von ihr benannten Buch „Die Schulden des Westens“ fanden, forderte Daniela Dahn schließlich dazu auf, radikal für eine Umverteilung des Reichtums im großen Umfang einzutreten.
Sofort im Anschluß sprach Dr. Cornelia Heintze, Ökonomin und Politologin zu Ostdeutschland als ökonomischem Problem und ökonomischer Herausforderung. Ihr an Daten reicher Vortrag begann mit einem kurzen und interessanten Vergleich zu den Problemlösungsstrategien der Skandinavier und der Deutschen im Handlungsfeld Arbeitslosigkeit.
Lohnnivellierung auf hohem Niveau und kurze Arbeitslosenzeiten (in den Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens) stehen einer wachsenden Massen- und Dauerarbeitslosigkeit und einem immer stärker werdenden Auseinanderdriften der Löhne in Deutschland, vergleichbar der Zustände im angelsächsischen Raum, gegenüber.
Interessant auch Ihre Aussagen zum Exportsektor als Motor wirtschaftlicher Stärke und Aufschwung in Deutschland, bei dem unter dem Strich herauskommt, dass der Exportsektor West mehr als 40% beträgt im Gegensatz zu Ostdeutschland, wo er weniger als 30% ausmacht. Gemeinsam ist aber „beiden Motoren“ ihre Wirkungslosigkeit bei der Einflussnahme auf die inneren Probleme Deutschlands wie der hohen Arbeitslosigkeit.
Weitere Felder, zu denen Dr. Cornelia Heintze Stellung nahm, waren die Disproportionen zwischen Ost- und Westdeutschland auf dem Gebiet der Investitionen aber auch sozialer Indikatoren wie z.B. der wachsenden Tendenz zu Kinderarmut.
Abschließend stellte sie fest, dass das Scheitern des „Aufbaus Ost“ nicht mit ökonomischen Ursachen allein zu begründen ist, sondern mit der Tatsache, dass der Osten aus politischen Gründen nach dem Muster des selbst an die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten gekommenen Westens umgestaltet wurde. Man hat versucht, eine Industriegesellschaft nach westdeutschem Muster zu schaffen und nicht sehen wollen, dass die Zeit für den Übergang zu einer wissensbasierten Nachindustriegesellschaft reif ist. Hier liegt der Nachholebedarf für Ost- und Westdeutschland.
Wulf Gallert schloss unmittelbar an den Gedanken an, dass man den Osten nach dem Muster der sich am Ende befindlichen Westverhältnisse zu gestalten suchte. Dazu gehörten westliche Industriestandards, die man schlicht nachgebaut habe. Er wies auf die Gefahr hin, die man mit dem Begriff einer „goldenen Diarrhoe“ umschreibt. Es ist jener Zustand, wenn Mittel in den Osten transferiert werden, die nicht zum Ausbau der eigenen Wertschöpfung an Ort und Stelle Verwendung finden. Die Wertschöpfung muss im Osten stattfinden, forderte Gallert. Weiter verwies er darauf, dass der Osten z. Z. massiv künftige Träger für eine aufzubauende, wissensbasierte Gesellschaft durch Abwanderung, Arbeitslosigkeit und Ausbildungsmangel bei Kinder- und Jugendlichen verliert. Der Osten spielt nur noch die Rolle einer verlängerten Werkbank für den Westen.
Für Wulf Gallert steht die Frage im Mittelpunkt: Wie transportiere ich Wissen in Wertschöpfung? Er meint damit vor allem Wertschöpfung im kleinteiligen Bereich und dies nicht unbedingt auf dem Gebiet der „Superhightechnologien“.
An anderer Stelle sieht Gallert ein künftiges Auseinanderfallen von Arbeitsmarkt und sozialer Frage und erklärt, dass es menschliche, soziale Bedingungen für Alle geben muss, ohne dass die Betreffenden immer im Arbeitsmarkt verankert sein müssen. Es folgten dann Anfragen an die Referenten.
Oliver Wendenkampf, Geschäftsführer des BUND in Sachsen-Anhalt und damit Vertreter einer Nichtregierungsorganisation sprach über „Soziale und ökonomische Nachhaltigkeit für ein zukunftsfähiges Sachsen-Anhalt“. Seine mit treffenden Karikaturen (Seeleute sitzen auf einem Floß und verheizen nach und nach dessen Holz) gespickten Ausführungen, mahnten u.a. einen sorgfältigeren Umgang mit unseren Ressourcen an.
Dr. Wolfgang Weiß von der Uni Greifswald stellte seinen Vortrag unter die Überschrift : „Demografische Herausforderungen im LSA – Innovative Räume versus Schrumpfung und selektiver Abwanderung“. Er schilderte Entwicklungen auf den Gebieten Lebenserwartung, Geburtenentwicklung, Migrationsbewegungen und Altersdurchschnittstendenzen. An Hand umfangreichen statistischen Materials belegte er demografische Entwicklungen in (Ost)Deutschland und unserem Bundesland und verwies auf deren soziale Folgen. So ist eine Tendenz des heutigen demografischen Wandels dadurch gekennzeichnet, dass das Verhältnis von Geburt und Tod von räumlichen Bewegungen überlagert wird. Die Migrationskomponente führt in bestimmten Gebieten, zu denen auch Sachsen-Anhalt gehört, zu einer Vergreisungsdynamik. Weiß brachte zum Ausdruck: Die Karte der Vergreisungsdynamik wird zur Karte der Armutsdynamik. Auf die geschlechterspezifische Komponente demografischer Entwicklung eingehend betonte er: Frauendefizite sind Kulturdefizite und machte deutlich, dass die verstärkte Abwanderung von Mädchen und Frauen aus wirtschaftlich unattraktiven Gebieten, wie aus Teilen Sachsen-Anhalts, negative Folgen für die kulturelle und gesamtgesellschaftliche Entwicklung unseres Landes haben werden. Der Behauptung, Deutschland schrumpft (bevölkerungsstatistisch), hielt Weiß entgegen: Ostdeutschland schrumpft!
Zur Tendenz der Vergreisung in Deutschland differenzierte er: Der Prozess vollziehe sich europaweit. Sinngemäß dazu: Europa fährt (bei der Vergreisung) im Pferdegalopp auf der Landstraße, Deutschland mit einem PKW auf der Autobahn und Ostdeutschland rast mit einem Porsche auf der Überholspur vorbei.
Die Kosten, die dem Osten durch Abwanderungen in die Alten Bundesländer entstehen, ließen sich ermessen, wenn man berücksichtigt, das statistisch gesehen jedes Kind für seine Entwicklung zum Erwachsenen ca. 105 000 Euro benötigt, ein Migrant innerhalb Deutschlands die Verlagerung von ca. 400 000 Euro bedeuten. Weiß schloss mit zwei Forderungen: Wir brauchen eine Sozialpolitik mit demografischen Implikationen! Und … Nötig ist eine andere Definition der Arbeit und des Alters!...
(Fortsetzung der Auswertung folgt)
Dr. Horst-Georg Richter/ Dirk Rumpf

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