Europa und die Linke

Die Veranstalter der Diskussionsrunde zu diesem Thema am 21. September 2000 hatten in der Tat einen etwas grösseren Teilnehmerkreis erwartet. Schliesslich konnte André Brie, Abgeordneter der PDS im Europäischen Parlament, als kompetenter Gesprächspartner gewonnen werden. Vor allem vom Bildungsverein ELBE-SAALE wurde im Vorfeld intensive Werbearbeit geleistet. Stellt sich die Frage, ob es Thema, Zeitpunkt, Ort oder möglicherweise Name des Referenten (?) waren, die - auch viele gewohnte Gäste - vom Weg in das Zentrum der Volkssolidarität in Halle-Neustadt abhielten. Allen Ferngebliebenen sei jedenfalls gesagt, sie haben etwas verpasst! Ausgangspunkt für Brie war ein Rückgriff auf die Position Lenins zur Frage der europäischen Einigung. Die damals kritische Sicht sei nach seiner Auffassung aufgrund der vorhandenen politischen und sozialökonomischen Bedingungen notwendig gewesen. Ein europäischer Zusammenschluss hätte zu jenem Zeitpunkt lediglich Kampf um Ressourcen, Märkte und Einfluss bedeutet, begleitet von wütendem Nationalismus. Linke konnten eine solche Entwicklung, die reaktionär und in bezug auf sozialistische Ziele illusionär war, nicht befürworten. Demgegenüber müsse heute von - vor allem in den letzten 20 Jahren gewachsenen - neuen Bedingungen (Globalisierung, neue Rolle internationaler Finanzmärkte etc.) ausgegangen werden. Sie böten im Vergleich zum Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts immer weniger Raum, auf nationalstaatlicher Ebene wirkungsvolle linke Gegenkräfte zu formieren. Dies sei eine wesentliche Ursache dafür, dass Linke inzwischen eine positivere - wenn auch nicht unumstrittene - Haltung zur europäischen Integration, die auch Chancen eröffne, einnehmen. Nicht nur Kapitalflucht und Lohndumping sprächen für eine drohende Rückkehr des Manchester-Kapitalismus als entfesseltem Kapitalismus auf internationaler Ebene. Dieser "kalten" Globalisierungstendenz müsse begegnet werden, was ein grenzüberschreitendes Engagement erfordere, jedoch nicht bedeute, nur noch Europa im Blick zu haben.
André Brie ging dann auf Beispiele ein, um sichtbar zu machen, wie problematisch der europäische Integrationsprozess zur Zeit verläuft. An der zunehmenden Zurückdrängung des Staates aus wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung, am wachsenden Privatisierungsdruck, der Nutzung der Osterweiterung für den Abbau sozialer Leistungen, der Überbewertung monetaristischer Ziele gegenüber beschäftigungspolitischen bei der Einführung des EURO sowie der mit schnellen Schritten daherkommenden Militarisierung (z.B. EU-Streitkräfte) zeigte er auf, was zum Gegenstand von Alternativen gemacht werden muss. Wichtig sei vor allem, politische Kontrollmöglichkeiten zu erkämpfen. Die Verteidigung des rheinisch - sozialdemokratischen Sozialstaates, die befürwortet werde, dürfe jedoch keinem beliebigen Sozialdemokratismus folgen, sondern müsse im Rahmen eines Erneuerungsprozesses schrittweise antikapitalistische Elemente einschließen.
Brie kennzeichnete auch das breite, für ihn teilweise problematische politische Spektrum der Fraktion der Linken im Europäischen Parlament. Die Positionen zur EU und ihren Perspektiven seien sehr unterschiedlich. Zu fragen wäre aus seiner Sicht vor allem, inwieweit über die parlamentarische Tätigkeit ein Beitrag zur geistigen Erneuerung der Linken geleistet und deren Neuformierung in Europa unterstützt werden kann.
Nach dem Vortrag hatte der Referent eine Fülle von Fragen zu beantworten. Er ging detaillierter auf Probleme der europäischen Integration ein, beispielweise auf die mit der Entwicklung der Militärmacht Europa und ihres Verhältnisses zu den USA verbundenen Gefahren, auf die Bedeutung des außerparlamentarischen Kampfes der Linken sowie auf aktuelle, grundsätzliche Inhalte linker Politik in Europa.
Beeindruckend war, wie einfühlsam, offen und bescheiden André Brie auf die Fragestellungen reagierte. Da konnte man nachvollziehen, inwieweit es z.B. Sinn macht, im Europaparlament Gelder für die Friedenserziehung zu fordern, ohne in den Verdacht zu geraten, naiv zu sein. Da wurde der Blick geöffnet für neue Dimensionen von Interessenvielfalt und Individualität im linken Lager, die schwer bündelbar sind und neue Ideen für ein gemeinsames Vorgehen herausfordern.
Die ganze Veranstaltung zeigte, wie wichtig es heute ist, über die Frage: Was ist links ? nachzudenken. Dass auch ältere Menschen, die sich nach wie vor sozialistischen Zielen verpflichtet fühlen, dazu bereit und fähig sind, wurde eindrucksvoll demonstriert. - Ein Grund mehr, solche Vortragsangebote künftig stärker in Anspruch zu nehmen, denn es lohnt sich.


Christel Gibas (ELBE-SAALE e.V.)

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